Kleine Nachtlektüre von Bodo Meinsen:

Hört ihr Leute, lasst euch sagen, die Uhr hat fünf vor zwölf geschlagen

Ein Raunen geht durchs Land. Krisen, Ängste und Ohnmacht begleiten die Menschen tagtäglich durchs Leben. Ein Leben voller Sorgen, Neid und Gehässigkeiten. Jeder darf seinen Senf dazu geben. Vorbei die Zeiten, in denen noch am Wirtshaustisch Politik gemacht wurde, wo sich die Honoratioren und der einfache Bürger trafen, um Glückseligkeit und Unmut loszuwerden. Heute gibt man sich virtuell und anonym den Kick. Ein Plauderdasein ohne Konsequenzen. Hauptsache man nimmt teil an der Community. Click & rush sozusagen. Ein Leben im Nebel der Ablenkung. Doch dann folgt der Alltag. Aufstehen, arbeiten, Unzufriedenheit abschalten, funktionieren, Unterhalt beschaffen, Maul halten und resignieren. Oder auch aufstehen, Ellenbogen ausfahren, mobben und vernichten, manipulieren und gewinnen, Vorteile erkämpfen, belehren und sich in Sicherheit fühlen. Eine dritte Variante des Daseins gibt es auch: einfach wach werden, sich Gedanken machen, wie der Tag sinnvoll zu gestalten ist, sich auf persönliche Begegnungen freuen, im Job kreativ und ohne Angst etwas voranbringen, sich nachher mit Freunden treffen und diskutieren, in der Partnerschaft liebevoll und fair gemeinsame Dinge realisieren und in der Gesellschaft positiv mitwirken. Welche Gruppe hat wohl derzeit die Oberhand?

Vor fünfzig Jahren traf man sie noch, die eloquenten Tischredner im Wirtshaus, die sich Gedanken machten und diese auch lautstark mitteilten. Denen hörte man zu. Sogar der Ortsvorsteher holte sich Meinungen aus dem Volk, um dann im Rathaus die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Die Politiker der 60er und 70er Jahre hatten es leichter, denn sie durften reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen war. So wie im Wirtshaus eben. Und den Leuten hat es gefallen, weil sie es verstanden haben. Heute wird kaum noch verstanden, was Sache ist. Politische Erklärung ist mehr Verklausulierung und gewollte Vernebelung. Bloß nichts sagen, was sofort verstanden werden könnte. Die Elite der rhetorischen Spitzfindigkeit hat sich gegenüber dem normalen Bürger und dessen Wunsch an Teilhabe an gemeinsamen Vorhaben durchgesetzt. Das Wirtshaus-Referendum hat ausgedient. Das „Die werden schon wissen, was sie tun – Gefühl“ wurde erfolgreich eingepflanzt. Manchmal lässt man dann aber doch das Volk näher an Entscheidungen ran. Taktisch wertvoll werden Volksbegehren und Volksentscheide inszeniert, damit ein Rest von Mitbestimmung über das eigene Leben erhalten bleibt. Aber bitte nicht, wenn es um einen Beitritt zur globalen europäischen Gemeinschaft geht, oder bei einer Währungsumstellung. Bahnhöfe, Startbahnen und Rauchverbote eignen sich da besser. Das betrifft doch schließlich das Volk direkt. Da fühlen sich die Menschen doch verstanden. Die wirklich großen Dinge von erheblicher Tragweite kann der kleine Mann doch gar nicht beurteilen. Und wenn es doch schief geht, dann kann man ja immer noch erklären, dass nun alles anders ist und man jetzt zusammenhalten müsse, um nichts Schlimmeres passieren zu lassen. „Die werden schon wissen, was sie tun“ scheint zu funktionieren.

Aber es gibt immer wieder Menschen, die nicht einverstanden mit dem Ist sind. Sie hinterfragen, klagen an und stören den Apparat. Widerlich, könnte man meinen. Die sollen gefälligst ihren Mund halten. Es funktioniert doch gerade so schön. Die jungen Leute sind froh, wenn sie einen Studienplatz oder eine Ausbildungsstelle erhalten. Sie haben gelernt, dass ein Job, eine Eigentumswohnung und ein wohlgeratenes Kind die Erfüllung sind. Das ausschweifende Leben der Wirtschaftswunder-Eltern ist passé. Funktionieren, folgen, Beispiel sein und gesunde Eintönigkeit ist das neue Spießertum. Die bürgerliche Mitte wird zum Brei gemacht. Links und rechts nur noch Unterschichtenränder, die man belächeln darf und soll. Ab ins Ghetto mit denen. Die taugen doch nur als abschreckendes Beispiel.

Aber wer ist denn nun Ansager? Wer hat die Vorgabe zu diesem Lebensweg der Gemeinschaft gemacht? Kennt man den oder die? Natürlich kennt man die: WIR alle sind es! Die Gesellschaft hat sich zu Gesellen, die sich selbst abschaffen, gemacht. Wir haben nicht aufgepasst, wir haben uns nur angepasst. Wir haben genau das zugelassen, was wir ehemals nicht mochten. Die heute 30 oder 40 Jährigen sind spießiger als ihre Eltern es je waren. Sie verknüpfen Leben mit Besitzstandwahrung, Sicherheitswahn und Askese. Das politische Leben beschränkt sich auf ein Mitwirken im Elternbeirat der Schule, aber dort wird dann richtig auf den Putz gehauen. Schließlich geht es ja um „mein Kind“. Und was ist mit der Zukunft dieses Kindes? Wird es noch frei genug sein, um ein eigenes Leben zu führen? Oder trainieren wir bereits das angepasste Funktionsmonster? Den Superspießer als neue Werteformel? Der wird keine Gelegenheit mehr haben, sich im Wirtshaus mit anderen zu messen, denn Versammlungsorte dieser Art wird es nicht mehr geben. Man wird sich beim Coffee-to-go in die Augen schauen und weitergehen. Man wird die Veganer-Clique nutzen, um Diskussionen über Langlebigkeit zu führen. Man wird beim joggen über gesellschaftliche Fehlbarkeiten stolpern und in der nachfolgenden Burn-Out-Gruppe wirksame Maßnahmen gegen die abtrünnige Minderheit der Unbelehrbaren ersinnen. Der 100-jährige indische Marathonläufer lächelt dazu, doch keiner hat wirklich verstanden, warum er lächelt.